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AutorenbildThomas Gawlitta

Revolution in der Immobilienwirtschaft - Das Konzept der Kreislaufwirtschaft

Dr. Patrick Bergmann, Geschäftsführer Madaster Germany


Jedes Jahr schafft die Baubranche weltweit eine unfassbare Anzahl von neuen Wohn- und Gewerbeflächen. Das Problem: Sie verschwendet dabei enorme Ressourcen. Zum Beispiel Rohstoffe wie Sand, der immer schwerer zu bekommen ist, sodass er sogar schon zu nächtlicher Stunde illegal von Stränden abtransportiert wurde. Nebenbei produziert die Branche allein in Deutschland etwa 55 Prozent des Abfallaufkommens. Im Jahr 2109 waren das laut Statista 230,9 Million Tonnen Bauschutt und Abbruchabfälle. Angesichts dieser immensen Summen muss sich die Immobilienwirtschaft die Frage stellen, mit welchen Maßnahmen sie künftig nachhaltig, aber vor allem klima- und ressourcenschonend arbeiten kann. Die Antwort auf diese Frage ist schnell gefunden: mithilfe einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft.

Materialien mit Identität

Das Konzept der Kreislaufwirtschaft – auch cradle-to-cradle genannt – beruht auf der Idee, dass alle Materialien und Rohstoffe in unendlichen Kreisläufen zirkulieren. Es entsteht kein Abfall und neue Rohstoffe bedarf es nur noch in geringem Maße. Betrachtet man die aktuelle Handhabung in der Bau- und Immobilienbranche, stammen lediglich 12 Prozent der verwendeten Rohstoffe aus Recycling. Der Anteil direkt wiederverwendeter Bauteile ist verschwindend gering. In der Bauwirtschaft sprechen wir heute somit viel mehr von cradle-to-grave als von cradle-to-cradle. Mögliche Gründe dafür sind unter anderem die strenge Regulatorik bei der Recyclatverwendung sowie das Fehlen von adäquaten Materialinformationen zur Zusammensetzung, Toxizität und Umweltschädlichkeit.

Doch das muss nicht so sein. Im Jahr 2017 in den Niederlanden als gemeinnützige Stiftung gegründet, verfolgt Madaster die Vision einer Welt ohne Abfall. Alle Materialien und Bauteile sollen Immobilien entnommen und anderweitig wiederverwendet werden können. Dafür hat Madaster im engen Austausch mit Unternehmen und Akteuren aus allen relevanten Bereichen der Bau- und Immobilienwirtschaft ein digitales Materialkataster entwickelt.

Planungsbüros und Bauverantwortliche registrieren alle gebäude- und materialspezifischen Daten auf der Online-Plattform und Hersteller ergänzen diese mit detaillierten Produktdaten. Dank intelligenter Verknüpfungen werden daraufhin Dokumentationsstandards für Materialien, Produkte und Gebäude gebündelt sowie Informationen zur Recyclingfähigkeit, CO2-Fußabdruck, Materialwert und Toxizität erfasst. Die Nutzenden können dann entsprechend für jede hochgeladene Immobilie in einem eigenen Objektdossier alle Informationen zu einem Gebäude überblicken. Der MaterialPassport dokumentiert, wie viel von welchen Materialien wo und wie verbaut ist. Der Carbon Calculator berechnet den CO2-Fußabdruck unter Einbezug der Produktherstellung sowie der Bauaktivitäten ebenso wie die CO2-Emissionen, die durch die Instandhaltung und den Rückbau entstehen. Anhand des Zirkularitätsindex wird zudem angegeben, wie viele Recyclingmaterialien im Gebäude stecken und wie viel davon potenziell rückgebaut und recycelt werden können.

Inwiefern fördert das die Kreislaufwirtschaft? Das Wissen über die Bestandteile von Immobilien ging in der Vergangenheit häufig während des Baus oder spätestens beim ersten Eigentümerwechsel verloren. Die zentrale und digitale Speicherung der Gebäudedaten ermöglicht einen Überblick bis zum Ende des Immobilienlebenszyklus, sodass bei einem Rückbau exakte Aussagen über die freiwerdenden Rohstoffe getroffen werden können. Als weiteren Bonuspunkt ist die Plattform von Madaster mit den internationalen Material- und Rohstoffbörsen verknüpft. Eigentümer bekommen somit jederzeit den tagesaktuellen Materialwert ihrer Immobilie.


Mangelnde Digitalisierung als Bremsklotz für den Wandel

Wie bereits erwähnt, brauchen Materialien im ersten Schritt eine Identität in Form von Daten. Ohne diese ist die Etablierung einer flächendeckenden Kreislaufwirtschaft nicht möglich.


Betrachtet man allerdings den Status quo der Datenerfassung im Immobiliensektor, so findet man heute vor allem analoge Datensätze auf unzähligen Seiten bedrucktem Papier, abgeheftet in Ordnern und in staubigen Lagerräumen verstaut. Diese analogen Daten sind zwar nützlich, aber aufgrund ihrer Beschaffenheit kaum zu verarbeiten. Wechselt im Verlauf des Lebenszyklus einer Immobilie die Verantwortlichkeit, können die gesammelten Informationen verloren gehen. Datenblätter werden nicht oder nicht vollständig übergeben, Produktinformationen als nicht relevant für eine Übergabe eingestuft – auch schon im Bau. Ein zuverlässiges Mittel diesem Problem vorzubeugen, ist die konsequente Digitalisierung und Speicherung von Material- und Gebäudedaten in Cloudsystemen.

Als problematisch erweist sich dabei jedoch der Digitalisierungsstand der Immobilienwirtschaft hierzulande. Wohingegen andere Wirtschaftszweige bereits vor Jahren angefangen haben ihre Dokumente und Daten zu digitalisieren, zeigt sich unsere Branche noch eher zögerlich. Ein Argument, das bei der Debatte um die digitale Erfassung von Material- und Bauteildaten immer wieder genannt wird, ist der erhöhte personelle und zeitliche Aufwand, der damit einher geht. Ein valider Punkt, jedoch ist so gut wie jede Veränderung im ersten Schritt mit einem Mehraufwand oder einer Umstellung der Arbeitsabläufe verbunden. Automatisierungsprozesse und der Einsatz künstlicher Intelligenz können jedoch auch hierbei Abhilfe schaffen oder den Mehraufwand verringern. Letztendlich lohnt sich aber die Investition, da digital verfügbare Daten für die Immobilienwirtschaft künftig unabdingbar sind. Angefangen beim gesetzlich vorgeschriebenen digitalen Gebäuderessourcenpass bis hin zur Pflicht der Erstellung von Nachhaltigkeitsreportings im Rahmen von ESG und der EU-Taxonomie.

Bezogen auf die Kreislaufwirtschaft zeigen sich zudem nicht zu unterschätzende finanzielle Vorteile für Eigentümer. Werden digitale Gebäudedaten online in einem Kataster wie Madaster gespeichert und gepflegt, ermöglicht dies Aussaugen zum anthropogenen Lager sowie die Ermittlung des aktuellen Verkaufswert der verbauten Stoffe. Damit wird die Angebotsseite bedient, sodass ein Markt für Sekundärmaterial entsteht und Eigentümer selbst bei Leerstand und Rückbau einer Immobilie Erlöse generieren können.


Die Niederlande: Vorreiter in Sachen Kreislaufwirtschaft

Sprechen wir über Kreislaufwirtschaft, so kommen wir nicht drum herum einen Blick über unsere Landesgrenzen zu den Nachbarn in den Niederlanden zu werfen, welche im europäischen Vergleich gerne als Vorzeigeland für Immobilienthemen herangezogen werden. Neben einer aktiveren Bodenpolitik, flexiblerer Grunderwerbssteuer, schnellerer Bauplanung gepaart mit niedrigeren Baukosten spielen Transparenz und Zirkularität eine wesentliche Rolle im Bau- und Immobiliensektor.


Die Idee des cradle-to-cradle wird hier aktiv gefördert und selbst die Politik hat sich bereits vor mehreren Jahren zur Kreislaufwirtschaft bekannt. Das Ziel: 100-prozentig kreislauffähige Wirtschaft bis 2050. Staatliche Regularien, Subventionierung und Standardisierung schaffen dabei Anreize für Unternehmen und ermöglichen eine bessere Planbarkeit.

Doch warum geht diese Entwicklung in Deutschland im Vergleich so langsam? Gründe können hierfür gleich mehrere genannt werden. Einerseits steht das Thema zirkuläre Materialwirtschaft erst seit vergangenem Jahr auf der politischen Agenda der Bundesregierung, andererseits spielt die Mentalität der Deutschen eine entscheidende Rolle. Konzepte und Ideen, die in den Niederlanden nach kurzer Prüfung einfach ausprobiert und dann während der Umsetzung weiterentwickelt und verbessert werden, werden in Deutschland vor Einführung langer Testphasen unterzogen, um noch vor Beginn der Umsetzung alle möglichen Fehlerquellen und Probleme zu analysieren und auszuschließen. Kurz gesagt: Wo die Deutschen auf Nummer sicher gehen, probieren die Niederländer einfach.


The Cradle – Büro nachhaltig gedacht

Doch auch in Deutschland gibt es schon erste Immobilien, die im Sinne der Circular Economy umgesetzt werden. Eines der bekanntesten Beispielprojekte ist das Bürogebäude „The Cradle“, welches von Interboden am Düsseldorfer Medienhafen nach dem „cradle-to-cradle“-Baukonzept entwickelt wurde. Ausnahmslos alle verbauten Materialien und Bauteile sind in einem digitalen Material Passport von Madaster dokumentiert, sodass fast alles wiederverwendet oder recycelt werden kann und somit praktisch kein Müll entsteht. Darüber hinaus wurde bereits bei der Planung darauf geachtet, den ökologischen Fußabdruck so gering wie möglich zu halten. So ersetzt Holz als nachwachsender Rohstoff die endlichen Baustoffe Beton und Plastik fast vollkommen. Das gesamte Konzept wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Iconic Award: Innovative Architecture 2018, mit dem Sonderpreis BIM beim Heinze Architekten Award 2020 und beim MIPIM/The Architectural Review Future Projects Award 2018 in der Kategorie Office.


Und damit nicht genug: Immer mehr Projektentwickler, Planer und Architekten versuchen ganz bewusst kreislauffähige Gebäude zu entwerfen. Damit entstehen nicht nur neue, für Nutzer gesunde Wohn- und Gewerbeflächen, sondern der CO2-Fußabrduck der Branche wird nachhaltig positiv beeinflusst.

New Normal – oder time to change


Erste erfolgreiche Projekte wie „The Cradle“ oder Vorzeigestaaten wie die Niederlande zeigen deutlich, wie nachhaltiges Bauen vor dem Hintergrund einer echten Kreislaufwirtschaft funktionieren kann. Entscheidend für den flächendeckenden Erfolg des Konzepts ist jedoch die Akzeptanz der Branche und eine breite Verfügbarkeit digitalisierter Daten.


Bezogen auf die Kreislaufwirtschaft wird zudem deutlich, welche Möglichkeiten sich Dank der fortschreitenden Digitalisierung für die Bau- und Immobilienbranche bieten. So können bereits heute auf Knopfdruck die im Gebäude gespeicherten CO2-Emissionen berechnet werden, wozu man bei einer rein analogen Datenbasis deutlich mehr Zeit, aber vor allem auch personelle Kapazitäten brauchen würde. Am Beispiel von Madaster zeigt sich zudem, dass der Mythos, die Dokumentation von Material- und Baustoffen koste viel Zeit und Geld, nur bedingt zutrifft. Einmal digital verfügbare Daten können kinderleicht online gepflegt, analysiert und bei Bedarf geteilt werden. Das spart auf den Lebenszyklus einer Immobilie betrachtet mehr Geld und Zeit, als für die initiale Erfassung der Daten aufgewendet werden muss.


Für die Zukunft empfiehlt es sich daher für alle Akteure der Bau- und Immobilienbranche die Digitalisierung der Bestandsdaten rund um Immobilien und den darin verbauten Materialien nicht auf die lange Bank zu schieben. Im Bereich des Neubaus bietet dafür beispielsweise Building Information Modeling (BIM) eine effektive Methode alle relevanten Informationen von Anfang an optimal zu erfassen. So kann die Digitalisierung zur erfolgreichen Etablierung einer echten Kreislaufwirtschaft beitragen und zeitgleich eine nachhaltige Lösung für die Ressourcenknappheit sowie der immensen Abfallproblematik aufzeigen.

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